Verluste schmerzen doppelt –warum viele Anleger ihre Gewinne verschenken
Ein psychologisches Grundmuster: Verlustaversion
Verlustaversion bedeutet: Verluste fühlen sich etwa doppelt so stark an wie gleich hohe Gewinne. Dieser Effekt wurde durch die Prospect Theory von Daniel Kahneman und Amos Tversky beschrieben. Das Verständnis dieser Verzerrung ist zentral, denn sie wirkt unbewusst, stark und ist weit verbreitet.
Rund 90 % aller Menschen zeigen sie.
Beispiel aus dem Alltag:
Stell dir vor, du gewinnst 500 Franken im Casino. Freude, klar. Aber wenn du am nächsten Tag 500 Franken verlierst – mit der gleichen Wahrscheinlichkeit –
wirst du dich deutlich schlechter fühlen.
Studien zeigen: Der Schmerz überwiegt.
Konkretes Beispiel:
Jemand hat kaum Erspartes und gewinnt 500 Franken im Casino – die Freude ist riesig.
Hat dieselbe Person jedoch 5000 Franken auf dem Konto,
wirkt der gleiche Gewinn weniger stark.
Umgekehrt schmerzt ein Verlust von 500 Franken auch in der Vorstellung doppelt so stark – selbst wenn er noch nicht eingetreten ist.
Das zeigt, wie emotional die Wahrnehmung von Verlusten ist.
(z. B. „Viele Anleger folgen einer einfachen Regel…“)
2. Alltagsbeispiel & Investment-Folgen
Gewinnt jemand 1000 Franken mit Aktie A und verliert danach 1000 Franken mit Aktie B, bleibt ein Gefühl des Ärgers. Um diesen Verlust emotional auszugleichen, braucht es im Schnitt etwa +2000 Franken, um sich gleich gut zu fühlen.
Typisches Anlegerverhalten:
- Gewinne werden frühzeitig realisiert («Sicher ist sicher»)
- Verluste werden ausgesessen («Wird sich schon erholen»)
- Portfolio kippt: starke Aktien werden verkauft, schwache behalten
Beispiel:
Ein Anleger verkauft seine gut gelaufene Aktie, weil sie schon 30 % im Plus liegt. Gleichzeitig behält er einen Verlierer mit -40 %, in der Hoffnung, „wieder auf Null zu kommen“. Die psychologische Logik: Der Verlust fühlt sich schlimmer an als der Gewinn – also wird er „geheilt“, statt das Kapital effizienter zu nutzen.
Ein anschaulicher Vergleich: In Deutschland stehen Arbeitnehmer:innen gesetzlich 24 Urlaubstage zu – in den USA nur 14. Würde man Deutschen Urlaubstage streichen, empfinden sie das als Verlust. Amerikaner hingegen empfinden eine Gehaltskürzung als schlimmer. Was wir als Status Quo wahrnehmen, bestimmt unser Verlustempfinden.
3. Wurzeln aus der Evolution
In der Urzeit war ein sicherer Gewinn überlebenswichtig. Ein verpasster Höhenflug war weniger schlimm als ein verlorenes Tier für die Gruppe. Verluste konnten direkt die Existenz bedrohen. Diese Prägung wirkt in modernen Börsensituationen weiter – obwohl das Risiko meist überschaubar ist.
Beispiel:
Ein Jäger, der einmal leer ausgeht, gefährdet das Überleben des Stammes. Deshalb wurde das Gehirn darauf programmiert, Verluste besonders ernst zu nehmen. An der Börse führt das heute dazu, dass viele lieber nichts tun, als eine mögliche Enttäuschung zu riskieren.
4. Verlustaversion in Studien & Experimenten
- In Laborexperimenten vermeiden Menschen sichere Verluste um jeden Preis – und nehmen dafür unnötige Risiken in Kauf
- Silver et al. (2020): Selbst 10-monatige Säuglinge zeigen wahlbedingte Präferenzverschiebung
- Adams et al. (2021): Menschen denken zuerst an «Hinzufügen», nicht an «Weglassen». Reduktion wird als Verlust empfunden – auch wenn sie objektiv besser wäre.
Organisationsbeispiel:
Ein Unternehmen streicht nach Jahren den kostenlosen Obstkorb. Obwohl dieser kaum Beachtung fand, reagieren viele Mitarbeitende negativ – weil ein „Benefit“ verloren geht. Das Weglassen wird als echter Verlust wahrgenommen.
Beispiel zur Verlust-Gewinn-Asymmetrie:
Bei Verlust von | Notwendiger Gewinn zum Ausgleichen |
---|---|
-10 % | +11 % |
-20 % | +25 % |
-30 % | +42 % |
-40 % | +67 % |
-50 % | +100 % |
Diese Zahlen zeigen deutlich: Wer grosse Verluste zulässt, braucht überproportionale Gewinne, um wieder auf Null zu kommen.
Folgen für Anleger und Gesellschaft
- Anleger halten schlechte Aktien zu lange und verkaufen die guten
- Viele setzen weiter auf gescheiterte Strategien (z. B. «Turnaround»), weil sie ihre Entscheidung rechtfertigen wollen
- Verlustaversion verhindert strukturelle Veränderungen – auch beim Klimawandel, weil der Verzicht auf Annehmlichkeiten als Verlust empfunden wird
Beispiel Gesellschaft:
Viele Menschen sagen: „Ich würde ja auf ein Auto verzichten, aber dann verliere ich meine Mobilität.“ Obwohl sie es vielleicht gar nicht so oft nutzen. Die Reduktion (kein Auto) fühlt sich schlimmer an als der Nutzengewinn (mehr Freizeit, weniger Kosten).
6. Tipps zur Vermeidung
Referenzpunkte überwinden:
Nicht der Einstandspreis entscheidet, sondern das aktuelle Potenzial
Verkaufskriterien definieren:
Würde ich diese Aktie heute nochmals kaufen?
Gewinne laufen lassen:
Teilverkäufe statt Komplettverkauf
Verlustregeln setzen:
Kleine Verluste akzeptieren, bevor sie gross werden
Tagebuch oder Entscheidungsprotokoll:
Was war die Strategie? Reagiere ich emotional oder sachlich?
Gedankenexperiment:
Stelle dir vor, du besitzt die Aktie nicht. Würdest du sie heute kaufen – oder eher nicht?
Sprich mit anderen:
Hole dir neutrale Sichtweisen. Oft hilft der Perspektivwechsel.
Entscheidungen strukturieren:
Nutze einfache Regeln, klare Verkaufszonen, Reinvestitionspläne
Akzeptiere Ungewissheit:
Der Markt ist nie planbar – aber du kannst deine Reaktion planen