Wer schreibt unsere Geschichte? Ein Aufruf zum Denken

„Die Tat ist stumm, ihr Ausgang gibt ihr Stimme.“ Diese Worte aus Friedrich Schillers Wallensteins Tod (1799) enthüllen eine tiefe Wahrheit: Handlungen sprechen nicht für sich selbst. Ob ein Ereignis als Heldentat oder Verbrechen gilt, hängt davon ab, wer die Geschichte erzählt – und mit welcher Absicht. In unserer Welt kämpfen Medien, Politiker*innen und soziale Plattformen um die Deutungshoheit. Doch wir haben die Fähigkeit – und Verantwortung –, selbst zu denken und die Narrative zu hinterfragen.
Die Welt ist gespalten – und das ist kein Zufall
„Teile und herrsche“ ist eine uralte Strategie der Macht. Sie teilt Menschen in Lager, schürt Misstrauen und pflanzt Hass. Wenn wir in Gruppen denken – wir gegen die anderen –, verlieren wir das Gemeinsame aus den Augen. Dieser Kreislauf des Hasses wird nicht von selbst enden. Er kann nur durchbrochen werden, wenn wir den Mut aufbringen, stillzustehen, zu denken – und zuzuhören.
- Vier Schlüsselbegriffe können dabei helfen:
- Narrative
- Utopie
- diskursives Denken und
- Ideologien
Der Ausweg: Diskursives Denken als utopischer Horizont
Wie durchbrechen wir diesen Kreislauf? Die Antwort liegt nicht darin, die „richtige“ Deutung zu finden – sondern darin, die Mechanismen der Deutung selbst zu verstehen. Wir müssen lernen, diskursiv zu denken.
- Das heisst:
- Anzuerkennen, dass jede Tat von unzähligen Narrativen umfasst ist – oft widersprüchlich, oft manipulativ.
- Die eigene Perspektive als eine von vielen zu begreifen – ohne sich selbst zu verlieren.
- Aktiv nach den Erzählungen der „anderen Seite“ zu suchen – nicht um ihnen recht zu geben, sondern um sie zu verstehen.
- Fragen zu stellen: Wer erzählt diese Geschichte? Mit welcher Absicht? Welche Begriffe werden gewählt? Welche Bilder erzeugt die Sprache? Wem nützt diese Deutung?
Das klingt vielleicht utopisch. Doch vielleicht ist eine Utopie kein fixer Endpunkt, sondern eine Richtung – ein Kompass für unsere Haltung. Eine Gesellschaft, in der Bürger nicht länger passive Empfänger von Deutungen sind, sondern aktive Teilnehmer des Diskurses. Eine Gesellschaft, die den Mut hat, zwischen der stummen Tat und dem lauten Narrativ innezuhalten – und zu reflektieren.
Was unsere Sicht bestimmt: Die Landkarten hinter den Geschichten
Ideologien sind mehr als politische Systeme – sie sind Deutungsmuster, die vorgeben, wie die Welt zu verstehen sei. Sie ordnen Ereignisse ein, sagen, wer Freund oder Feind ist, was richtig und falsch erscheint.
Häufig wirken sie unsichtbar – als „gesunder Menschenverstand“, als „es war doch schon immer so“. Doch sie prägen unsere Wahrnehmung tiefgreifend. Narrative sind ihre Sprache, Diskurse ihr Verbreitungsraum.
Wer diskursiv denkt, verlässt das starre Raster der Ideologien – ohne Wahrheiten zu leugnen. Es geht nicht darum, ohne Weltbild zu leben, sondern sich der eigenen ideologischen Prägung bewusst zu werden. Denn nur wer erkennt, auf welcher Landkarte er steht, kann wirklich frei den Weg wählen.
Narrative: Die Geschichten, die unsere Welt formen
Ein Narrativ ist nicht einfach eine Geschichte – es ist ein Deutungsrahmen, der Handlungen Sinn verleiht. Ein Krieg kann als „Befreiung“ oder „Aggression“ bezeichnet werden – der Fakt bleibt gleich, die Bedeutung aber verändert sich vollständig.
Narrative entscheiden darüber, was wir für wahr halten. Wer sie kontrolliert, beeinflusst unser Denken, unser Fühlen – und letztlich unser Handeln.
- Deshalb ist es so wichtig, Narrative zu hinterfragen:
- Stimmt diese Geschichte wirklich?
- Wer erzählt sie – und warum?
- Was wird ausgeblendet?
Das bedeutet nicht, dass es keine Wahrheit gibt – aber es heisst, dass wir uns bewusst machen müssen, wie sehr unsere Wahrnehmung von Sprache, Kontext und Macht geprägt ist.
Utopie: Der Mut, das Mögliche zu denken
Eine Utopie ist nicht naiv. Sie ist ein Denkexperiment, ein Bild einer besseren Welt, das uns hilft, die Gegenwart klarer zu sehen.
Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der Menschen respektvoll streiten, statt sich zu verurteilen. In der Deutungen nicht geglaubt, sondern geprüft werden. In der Medien nicht aufhetzen, sondern aufklären.
Utopisches Denken ist in Zeiten der Polarisierung kein Luxus – sondern eine Notwendigkeit. Es eröffnet Räume für neue Narrative, die verbinden statt trennen. Für Geschichten, die Würde geben statt Angst.
Die Freiheit, die uns niemand nehmen kann
Damit schliesst sich der Kreis zu einem anderen, hoffnungsvollen Gedanken Schillers:
„Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei – und wär er in Ketten geboren.“
Die äusseren Ketten – das sind die Taten, die geschehen. Die Narrative, die uns auferlegt werden. Die innerste Freiheit aber ist: zu denken, zu zweifeln, zu deuten – selbst.
Die Tat mag stumm sein. Der Ausgang mag die offizielle Geschichte schreiben. Aber welche Bedeutung wir ihr für uns geben – das ist unsere Entscheidung.
Schlussgedanke
Fordern wir die Deutungshoheit über unseren eigenen Verstand zurück. Hören wir auf den Lärm – aber lauschen wir auch auf die Stille dazwischen. Denken wir selbst – sonst tun es andere für uns.
„Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“
– Immanuel Kant