Psychologie der Aktienmärkte: Wer investiert wann?
Fallstudie DocMorris: Vom Börsenstar zum Krisenfall – und zurück?
DocMorris galt 2021 als Star der Gesundheitsdigitalisierung: Telemedizin, E-Rezept und europäische Skalierbarkeit versprachen eine Revolution im Apothekermarkt. Die Aktie stieg auf CHF 509 am 12. Februar 2021, getrieben von Euphorie und hohen Analystenerwartungen. Heute, nach einer Kapitalerhöhung im Mai 2025, notiert sie bei CHF 6.41 (Stand: 17. Juni 2025), mit Kurszielen zwischen CHF 5.32 und CHF 40 (Konsens: CHF 14.83). Analysten sprechen von „Verwässerung“ und „Krisenstimmung“. Gleichzeitig bedient DocMorris über 10 Millionen Kunden und erzielte 2024 einen Umsatz von CHF 1.085 Mio. Ist der Wert einer Firma wirklich so stark von der Stimmung abhängig? Oder bietet der Tiefststand eine antizyklische Chance?
Eine psychologische Betrachtung vor der Fundamentalanalyse
Psychologisches Phasenmodell: Wer investiert wann?
DocMorris zeigt ein Lehrbuchbeispiel für massenpsychologisches Marktverhalten:
Dieses Muster lässt sich anhand der Kursentwicklung in fünf klaren Phasen nachzeichnen – von der Euphorie bis zur Resignation.
Stage 1 – Frühphase: Retail kauft Hoffnung
Ab 2018 stiegen Privatanleger ein, angelockt von der Vision, den Apothekermarkt zu digitalisieren. Medienberichte über TeleClinic und das E-Rezept-Potenzial in Deutschland befeuerten die Fantasie. Ohne tiefgehende Fundamentalanalyse setzten Investoren auf eine Vervielfachung.
➡️ Gier, Euphorie, Storytelling.
Stage 2 – Erste Analysten springen auf
Analysehäuser wie Jefferies griffen die Story früh auf, mit „Buy“-Ratings und DCF-Modellen, die Kursziele von über CHF 300 prognostizierten. Dies verlieh der Vision institutionelle Legitimation, obwohl das E-Rezept in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckte.
➡️ Das Narrativ wird „investierbar“.
Stage 3 – Hedgefonds erkennen das Momentum
2020–2021 erkannten Hedgefonds das Momentum. Die Aktie explodierte, mit einem Höchstkurs von CHF 509 am 12. Februar 2021. Die starke Kursentwicklung ermöglichte strategischen Handlungsspielraum – Kapitalmassnahmen waren zu diesem Zeitpunkt nicht nötig. Leerverkäufer begannen jedoch, Positionen aufzubauen, und erste technische Hürden beim E-Rezept (z. B. Cardlink-App) wurden sichtbar.
➡️ Momentum + Medien = Kursrakete.
Stage 4 – Analystenkonsens: Kaufen, kaufen, kaufen
2021 folgte die Herde: Investmentfonds, TV-Analysen und „Kaufen“-Empfehlungen dominierten. Kritische Stimmen wurden ignoriert. Der Konkurrent Redcare Pharmacy wuchs jedoch schneller, und technische Probleme beim E-Rezept sowie hohe Marketingkosten (CHF 30 Millionen in 2024) dämpften das Wachstum.
➡️ Herdenpsychologie pur. Niemand fragte: „Was, wenn es nicht klappt?“
Stage 5 – Breite institutionelle Beteiligung
Grossinvestoren, Fonds und ETFs stiegen ein, doch das Risiko war maximiert. Alles Positive war eingepreist. Ab 2022 kippte die Stimmung: E-Rezept-Verzögerungen, ein EBITDA-Verlust von CHF 48,6 Millionen (2024) und Margendruck führten zu einem Kursverfall unter CHF 100. Die Kapitalerhöhung 2025 (CHF 200 Mio., 36.2 Mio. neue Aktien zu CHF 5,75) sowie hoher Short-Interest belasteten den Kurs.
➡️ Der Wendepunkt kam, als niemand mehr fragte.
Der Absturz: Wenn die Realität zurückkehrt
Ab 2023 traten operative Herausforderungen in den Vordergrund: Ein langsamer Rollout des E-Rezepts in Deutschland, ein Nettoverlust von CHF 97.3 Mio. (2024) und eine generell angespannte Marktlage erhöhten den Druck. Analysten senkten die Kursziele von über CHF 300 (2021) auf eine Bandbreite zwischen CHF 5.32 und CHF 40 (Konsens: CHF 14.83). Gleichzeitig nahm der Short-Interest zu. Die Kapitalerhöhung 2025 führte zu einer signifikanten Ausweitung der Aktienanzahl, was den Kurs belastete. Der Nettoerlös dient dem weiteren Ausbau des E-Rezept-Geschäfts (Rx-Wachstum von 16.6 % im Q4 2024 laut Unternehmensangaben) und der Rückzahlung einer Wandelanleihe (CHF 95 Mio., fällig 2026).
➡️ Die Aktie wurde zum Symbol für enttäuschtes Vertrauen.
Die vergessene Phase: Antizyklisches Investieren & Chancen
Trotz des dramatischen Kursverfalls gibt es antizyklische Signale: Der polnische Gesundheitskonzern Pelion (via CEPD N.V.) hält nach der Kapitalerhöhung 10.12 % der stark verwässerten Aktien – ein strategisches Commitment. Privatanleger steigen erneut ein, da der Kurs nahe dem Emissionspreis liegt. Das E-Rezept-Geschäft wächst weiter, mit einem Rx-Wachstum von 16.6 % im vierten Quartal 2024. Die Vision eines digitalen Gesundheitsökosystems bleibt intakt.
➡️ Die Bühne ist leer – aber die Grundidee lebt.
Panik verkauft, Perspektive kauft
DocMorris zeigt, wie stark Emotionen und Gruppendenken die Märkte prägen. Analysten schwankten zwischen Euphorie (2021) und Pessimismus (2025), häufig ohne das Fundament zu berücksichtigen: CHF 1.085 Mio. Umsatz, über 10 Mio. aktive Kunden. Kapitalmaßnahmen und Leerverkäufe verstärkten die Unsicherheit. Doch mit Pelions Einstieg und dem beschleunigten E-Rezept-Wachstum bestehen Chancen auf einen Turnaround. Der aktuelle Kurs von CHF 6.41 könnte eine antizyklische Gelegenheit darstellen.
📌 Psychologische Essenz:
- „Wahre Chancen liegen dort, wo niemand hinsieht.“
- „An der Börse wird selten gefragt: Stimmt es? Sondern: Wer sagt es?“
- „Hass ist oft ein besserer Kaufmoment als Euphorie.“