Systemstress – Wie Trumps Amerika die Weltordnung neu verhandelt
Die USA ziehen sich nicht einfach zurück – sie reißen bewusst alte Strukturen ein.
Trumps zweite Amtszeit bringt massive tektonische Verschiebungen: Von DOGE über Wirtschaftszölle bis zur Aufkündigung transatlantischer Verpflichtungen. Europa steht vor der Wahl: Mitgestalten oder Getriebener sein.
Eine Analyse der neuen Kräfteverhältnisse – und der historischen Zyklen, die uns leiten.
Vom Hegemon zur strategischen Selbstentmachtung?
Als das Britische Empire nach dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich ausgeblutet war, verlor es in wenigen Jahren fast alle seine Kolonien – nicht durch Krieg, sondern durch strukturellen Erschöpfung.
Heute beobachten wir ein ähnliches Phänomen bei den Vereinigten Staaten: ein Imperium, das sich selbst entkernt. Die USA, einst Garant der westlich geprägten Weltordnung, steuern unter Präsident Trump erneut auf eine tektonische Neuordnung der internationalen Verhältnisse zu.
Mit «tektonischer Neuordnung» ist gemeint: Verschiebung globaler Machtverhältnisse, Rückbau multilateraler Institutionen und eine deliberate Neujustierung geopolitischer Abhängigkeiten. Doch anders als in früheren Phasen dominieren heute nicht mehr Aufbau und Stabilisierung, sondern Rückzug und Demontage. Trump 2.0 scheint kein Versehen – sondern Methode.
Die Initiativen reichen von massiven fiskalischen Eingriffen über eine strategisch inszenierte De-Globalisierung bis zur Institutionalisierung von Verwaltungsabbau unter Elon Musk. Alles läuft auf einen Bruch mit der bisherigen Weltordnung hinaus – und Europa steht mittendrin.
DOGE: Technokratische Reform oder institutionelle Erosion?
DOGE war offiziell ein Effizienzprogramm – inoffiziell ein Testlabor für radikale Umstrukturierung. Unter dem Deckmantel der «Verschlankung» wurden über 80 Verwaltungssysteme infiltriert, Zugriff auf Sozialversicherungsdaten ermöglicht und loyal besetzte Schlüsselpositionen geschaffen – unter dem Radar der Öffentlichkeit.
Die Umsetzung erfolgte häufig über Sonderkommissionen mit befristetem Mandat, über direkte Interventionen des Weißen Hauses bei Behördenbesetzungen oder über personelle Rochaden innerhalb des sogenannten „Regulatory Modernization Council“, einem Gremium ohne gesetzliche Legitimation, aber mit Zugriff auf Kernressorts wie EPA, Finanzministerium oder Gesundheitsbehörden.
Ein konkretes Beispiel ist die Environmental Protection Agency (EPA), deren Leitung nach dem DOGE-Erlass durch einen politischen Quereinsteiger mit Nähe zu Industrieverbänden ersetzt wurde. Die Folge: Stillstand bei Emissionsrichtlinien, Deregulierung zugunsten von Förderindustrien. Auch das Finanzministerium wurde restrukturiert – mit Fokus auf Kapitalfreisetzung und Kontrolle durch Loyalität, nicht Qualifikation.
Entscheidungen über Budgetzuweisungen und steuerliche Ausnahmeregelungen lagen plötzlich in den Händen parteinaher Think Tanks, die über operative Hebel verfügten. So erhielt etwa das «Freedom Fiscal Forum» ein Vetorecht bei haushaltspolitischen Entscheidungen über 50 Millionen Dollar – ohne demokratische Legitimation.
DOGE bedeutete so nicht nur Verwaltungsumbau – sondern die Ersetzung institutioneller Expertise durch politische Loyalität. Musk mag gegangen sein, seine Methode bleibt: Start-up-Kalkül trifft Regierungsapparat.
Die eigentliche Frage lautet: Ist DOGE ein Modell für die Zukunft oder eine Blaupause für den Abbau demokratischer Kontrolle? Europa sollte genau hinsehen – nicht nur als Beobachter, sondern als potenziell nächster Adressat solcher Methoden.
Handelskonflikt: Zölle, Misstrauen und zerreißende Lieferketten
Die offiziellen Begründungen sprechen von „Schutz der heimischen Industrie“. Doch hinter den Kulissen offenbart sich ein anderes Bild: gezielte Verunsicherung von Marktmechanismen. Seit März 2025 haben die USA neue Importzölle in Höhe von 60 % auf chinesische Elektroautos, 50 % auf Halbleiter sowie 25 % auf Solarpanels eingeführt. Europa trifft das indirekt, da viele Zulieferketten zwischen Deutschland, den USA und China mehrfach verschränkt sind – insbesondere im Bereich Maschinenbau, Chemie und Hightech-Komponenten. Die Folge: Absatzmärkte brechen weg, Projekte verzögern sich, Margen sinken.
Unternehmer wie Frau Dickerson (Logistik) oder Herr Ripp (Stahlhandel) zahlen nicht nur höhere Preise, sondern den Preis für geopolitische Narrative. Inzwischen wird die Produktion auf Verdacht gestoppt, Lager gefüllt, Material vorverlagert. Die Regel lautet: nicht planen, sondern spekulieren. Die globale Lieferkette – einst Symbol rationaler Effizienz – wird zur Geisel politischer Signale.
In der Automobilindustrie etwa lagern europäische Hersteller derzeit bis zu 30 % mehr Chips auf Vorrat als 2022 – aus Angst vor Unterbrechungen. US-Investoren bemänteln den Rückbau mit «patriotischem Kapitalismus», doch für die Weltwirtschaft ist es ein Schritt zurück in die Ära der Misstrauensökonomie.
Auswirkungen auf Europa: Der Preis der Abhängigkeit
Das Nachkriegsversprechen lautete: transatlantische Stabilität gegen politische Folgsamkeit. Dieses Tauschgeschäft ist ausgelaufen. Wenn Washington 5 % BIP-Verteidigung fordert – wie 2024 von Trump gefordert und seither im NATO-Haushaltsrahmen diskutiert –, geht es nicht um Budgeteifer, sondern um politische Dominanz durch finanzielle Erpressung. Derzeit liegt Europas Verteidigungsausgabe bei durchschnittlich 1,7 % des BIP (Stand 2024). Ein Anstieg auf 5 % würde in Deutschland rund 180 Mrd. Euro jährlich bedeuten – mehr als das gesamte Bildungsbudget.
Die Alternative? Eigene strategische Souveränität – ein Begriff, den Europa zwar liebt, aber nicht umsetzt. Während in Brüssel Papiere zur «Resilienz» kursieren, konsolidiert Washington seine Macht durch Entzug. Wer nicht mehr schützt, zwingt andere zum Selbstschutz. Und das bedeutet: höhere Kosten, neue Unsicherheiten – und die Rückkehr der alten Frage: Wer schützt wen vor wem?
Die Metaperspektive: Zyklen, Hegemoniewandel, systemischer Stress
Wir stehen an einem Kipppunkt, der in Statistiken kaum zu fassen ist. Die USA verlieren nicht nur Macht – sie verweigern Verantwortung. China, einst Nutznießer der Globalisierung, wird nun gezwungen, innere Ruhe durch äußere Stärke zu kompensieren. Ein Drittel der chinesischen Bevölkerung lebt nahe der Armutsschwelle – gleichzeitig fordert die KP «gemeinsamen Wohlstand». Das ist Sprengstoff. Wenn zwei Hegemonen ihre jeweiligen Krisen nach außen tragen, bleibt Europa zwischen Rückzug und Konfrontation. Die Geschichte zeigt: Weltordnung stirbt selten mit einem Knall – sondern mit einem Bröckeln, das niemand ernst genug nimmt, bis es zu spät ist.
Die Entwicklung folgt dabei einem zyklischen Muster: Der Übergang vom Goldstandard zur Dominanz des Dollars, Bretton Woods I und II, die Ära der „petrodollarisierten“ Globalisierung – all das war kein Zufall, sondern Ausdruck eines Systems. Und dieses System wankt.
Jahrzehnte niedriger Zinsen, künstlicher Liquidität und Schuldenwachstum haben ein Umfeld geschaffen, in dem geopolitische Spannungen unmittelbar auf monetäre Fundamente zurückwirken. Seit 2022 haben sich die US-Zinsausgaben von unter 400 Mrd. auf über 1 Billion Dollar (2025) fast verdreifacht – mehr als die Verteidigungsausgaben. Der Zins ist zurück, das Vertrauen in Fiat-Währungen wankt – und mit ihm die Basis, auf der Handel, Reserven und Macht ruhen. Wenn Amerika einen Schnupfen hat, bekommt die Welt eine Grippe – und dieses Sprichwort trifft heute mehr denn je.
„Die Weltordnung ist kein Naturgesetz.
Sie wurde geschaffen – und kann auch wieder zerfallen.“
– Robert Kagan
„Die USA haben nicht mehr die Kraft – oder den Willen –, die Welt zu führen.
Und niemand anderes will die Welt übernehmen, wie die USA es taten.“
– Fareed Zakaria
Fazit: Europas Stunde der Verantwortung
Europa ist nicht Beobachter, sondern Mitspieler – ob es will oder nicht. Wer heute noch glaubt, dass multilaterale Spielregeln Schutz bieten, ignoriert die Logik der Machtpolitik.
Es ist Zeit für eine neue Nüchternheit, für strategischen Realitätssinn. Wer im Schutz des Hegemons gewachsen ist, muss nun ohne ihn atmen lernen – oder wird erdrückt von den Entscheidungen anderer.
Handlungsempfehlungen für Europa:
- Aufbau einer eigenständigen europäischen Verteidigungsindustrie
- Diversifizierung kritischer Abhängigkeiten – von Energiequellen bis zu Halbleitern
- Förderung von Schlüsseltechnologien wie KI, GreenTech und Cybersicherheit
- Etablierung robuster Außenhandelsbeziehungen jenseits der USA und Chinas
- Aufbau strategischer Reserven für kritische Infrastruktur (Digitales, Medizin, Rohstoffe)
- Förderung von Public Risk Literacy – strategisches Denken in Gesellschaft und Politik verankern
Fragen zur Leseraktivierung:
- Welche Rolle sollte Deutschland in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur spielen?
- Wie können europäische Unternehmen auf zunehmende geopolitische Unsicherheiten in globalen Lieferketten reagieren?
- Ist die EU bereit, sich auch ökonomisch von den USA zu emanzipieren – und zu welchem Preis?
- Welche historischen Lektionen sollten Europas Entscheider aus früheren Systembrüchen ziehen?
- Wie sähe ein europäisches Narrativ der Souveränität aus – jenseits technokratischer Floskeln?
Dieser Artikel ist Teil einer laufenden Analyse zum geopolitischen Strukturwandel.